16 Monate Pandemie - Eine Bestandsaufnahme durch die Offene Kinder- und Jugendarbeit
Wenn in den letzten Monaten von Kindern oder Jugendlichen gesprochen wurde, wurde schulische Bildung oft in den Vordergrund gerückt; dabei sind oftmals andere, zentrale Bedarfe junger Menschen bzw. für sie belastende Auswirkungen der Pandemie aus dem Blick geraten bzw. verloren gegangen. In der Folge wurden dann – ebenfalls einseitige, rein schulmäßig orientierte – Maßnahmen wie Summerschools oder Nachhilfeprogramme als Mittel der Wahl politisch gefordert, forciert, verabschiedet oder auch gepriesen.
Aus Sicht der Fachleute im Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit entspricht diese Frage allein nach der formellen Qualifizierung einer verkürzten Sicht auf junge Menschen. Manuela Sauer, Grundsatzreferentin beim Kreisjugendring München-Stadt, erklärt dazu: „Diese einseitige Sicht wird der Lebenswirklichkeit von jungen Menschen nicht gerecht: Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene stehen bei ihrem Aufwachsen vor viel komplexeren Herausforderungen. In ihrem Alltag spielen psychosoziale Faktoren eine ganz entscheidende Rolle, wie z.B. die Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung, die Einbindung unter Gleichaltrigen, die finanzielle Situation oder auch das Verhältnis gegenüber zivilgesellschaftlichen und politischen Instanzen.“ Daher haben die Fachleute aus dem Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit auch den Anspruch, bei ihrer Arbeit immer wieder Maßnahmen zu entwickeln, die auf diese Komplexität abgestimmt sind.
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit/OKJA steht nicht erst seit Beginn der Pandemie Kindern und Jugendlichen zur Seite. Zentral ist dabei, ihre Sorgen aufzugreifen, eine Art Normalität herzustellen sowie Begegnungen zu ermöglichen, wobei hiermit nicht nur die Beziehungen der Pädagog*innen zu den Kindern und Jugendlichen gemeint sind, sondern vor allem der Kontakt unter Gleichaltrigen. Direkt mit dem ersten Lockdown haben die Fachkräfte, so schnell wie möglich Pandemie-konforme Begegnungs- sowie Freizeitangebote konzipiert und angeboten.
Kerstin Günter vom Fachforum Freizeitstätten berichtet: „Die OKJA wurde beschleunigt ins digitale Zeitalter gebeamt. Wir haben jede Menge neue Formate entwickelt; wir haben mit den jungen Menschen über Onlinetools diskutiert, aber auch gespielt, gebastelt, gekocht und sogar gemeinsam gegessen. Dazu haben wir Spiel- und Bastelboxen zum Abholen verschenkt und für 1:1-Gespräche gab es „Walk & Talk“ Spaziergänge.“
Nichtsdestotrotz wurden durch die notwendigen Hygienemaßnahmen wie z.B. das Einhalten von Abständen oder die Registrierung zur Nachverfolgung von Kontakten all das außer Kraft gesetzt, was Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kern ausmacht: Niedrigschwelligkeit, Offenheit, Partizipation und direkte Beziehungsarbeit.
Mittlerweile, d.h. nach bald 1,5 Jahren Pandemie, ist in den Einrichtungen der OKJA zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche bisweilen verlernt haben, miteinander umzugehen oder in Kontakt zu treten. Private, schulische oder berufliche Ziele sind in den Hintergrund getreten oder verloren gegangen. Die Kinder und Jugendlichen wissen oft mit sich und ihrer freien Zeit wenig anzufangen.
Wenn lange Zeit ein Treffen auf Gleichaltrige in der Schule oder im Verein ausbleiben musste, man niemanden mehr zu sich nach Hause einladen und sich vor allem nicht im Sozialraum draußen treffen durfte, blieb oftmals entweder nur der Weg in den „Untergrund“, begleitet von der Angst vor Bußgeldern bzw. jemanden aus der Familie anzustecken - oder aber der Weg in die Isolation.
Im Feld der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist man sich einig: Jungen Menschen fehlt seit über einem Jahr etwas ganz Elementares in ihrer Entwicklung. Der Austausch mit Gleichaltrigen, die Abnabelung vom Elternhaus, das Sich-Ausprobieren um herauszufinden, wer man ist und was man will.
Genau hier kommt die Offene Kinder- und Jugendarbeit ins Spiel, erläutert Ulrike Steinforth, Planungsbeauftragte des Münchner Trichters: „Die Offene Kinder- und Jugendarbeit stellt Räume zur Verfügung, in denen Kinder und Jugendliche selbstbestimmt und partizipativ Freizeit, Spiel, Kultur und Begegnung erleben können. Sie ist kein „nice to have“, sondern leistet einen zentralen Beitrag zu einem (möglichst) gesunden Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und unterstützt sie nun auch bei der Bewältigung von psychischen und sozialen Auswirkungen von Corona.“
Die drei Fachkräfte betonen: „Bei uns müssen die Besucher*innen keine Leistung erbringen – in einer Gesellschaft, die vor lauter Leistungsdruck kaum noch atmen kann, ist dies ein unschätzbarer Wert.“
Die bisherigen Hygieneschutzmaßnahmenverordnungen in Bayern haben die Jugendarbeit nicht als eigenständigen Bereich benannt. Dies hat bei den Fachkräften die Befürchtung geweckt, dass es – zumindest auf Landesebene – an zentralen Stellen in der Politik noch an Bewusstsein zur Wichtigkeit der außerschulischen Bildung fehlt, und dabei zugleich auch die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen vergessen wurde.
Diese Zumutungen sind nicht länger hinnehmbar; weitere coronabedingte Belastungen von Kindern und Jugendlichen sind unbedingt zu vermeiden! Die Pandemiepolitik der nächsten
Monate wird sich daran messen lassen müssen, ob sie ihr Augenmerk endlich auch auf junge Menschen richtet und ihre Bedürfnisse ernst nimmt.
Verfasserinnen sind:
- Manuela Sauer, Grundsatzreferentin Kreisjugendring München-Stadt
- Ulrike Steinforth, Planungsbeauftragte des Münchner Trichters
- Kerstin Günter, Fachforum Freizeitstätten